Berlin-Zehlendorf
Wer in der Zehlendorfer
Sophie-Charlotte-Straße an der dreistöckigen
Villa mit der Hausnummer 31 vorbeikommt,
wird auf den ersten Blick nichts
Ungewöhnliches an diesem Bauwerk feststellen
können. Dank umfangreicher Renovierungen in
den Jahren 1949, 1964 und 1990/91 ist sein
allgemeiner Zustand sehr gut. Doch gepflegte
Mehrfamilienhäuser von großzügigem Zuschnitt
findet man in dieser Umgebung nicht selten.
Allenfalls eine Porträtbüste aus weißem
Carrara-Marmor im Vorgarten des Gebäudes
gibt dem Betrachter einen Hinweis auf das
Besondere dieser Adresse. Sie weist auf die
ungewöhnliche Geschichte des Hauses hin.
Die Büste stellt Papst Pius XII. dar,
Eugenio Pacelli, der von 1920 bis 1929 als
Apostolischer Nuntius für das Deutsche Reich
in Berlin und von 1930 bis zu seiner Wahl
zum Papst 1939 als Kardinalstaatssekretär im
Vatikan wirkte. Mit einer großzügigen Spende
ermöglichte er 1949 den Kauf dieses Hauses,
das heute als Teil einer Stiftung seinen
Namen trägt.
Auf den eigentlichen Initiator und
unermüdlichen Verfechter dieser Stiftung für
die Jugend weist allerdings kein Marmorbild
und keine Erinnerungstafel hin, obwohl es
der italienische Geistliche Don Luigi
Fraccari gewiss auch verdient hätte. Er
wurde 1909 in Pazzon in der Nähe der
norditalienischen Provinzhauptstadt Verona
geboren, studierte Theologie und wurde 1932
zum katholischen Priester geweiht. Nachdem
er einige Jahre in seiner Heimat als
Seelsorger tätig gewesen war, gaben der
Krieg und seine Folgen dem Leben Fraccaris
eine neue Orientierung.
Als sich Italien nach der Entmachtung
Mussolinis im Kriegsjahr 1913 von den
Achsenmächten löste und sich den Alliierten
zuwandte, fasste Fraccari den Entschluss
nach Deutschland zu gehen und sich hier um
das Schicksal seiner Landsleute zu kümmern.
Der Bruch Italiens mit Deutschland hatte ja
zur Folge gehabt, das die Angehörigen der
einstmals verbündeten Armee entwaffnet in
deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren
oder als Zivilpersonen in Internierungslager
eingewiesen wurden.
Fraccari richtete 1944 in Berlin ein Büro
für die Kriegsgefangenen ein, kümmerte sich
um die internierten, kranken und verletzten
Italiener und wurde die „Rechte Hand” des
päpstlichen Nuntius Orsenigo. 1945 wurde
Fraccari mit der Seelsorge für die Italiener
im russisch-besetzten Teil der Stadt
beauftragt und richtete zudem in Wilmersdorf
eine Betreuungsstelle ein. Er war der
einzige offiziell in Deutschland verbliebene
italienische Priester und als
Generaldelegierter des Italienischen Roten
Kreuzes, bei den Amerikanern in Frankfurt am
Main akkreditiert, die einzige anerkannte
italienische Behörde in Berlin.
Bis zu seiner Rückkehr in die Heimat war er
ein äußerst engagierter und aktiver
Vermittler und Organisator, der die
Italiener Berlins zusammenbrachte. Mitten im
Prenzlauer Berg hatte er einen Ort
etabliert, an dem sie sich, aus allen Teilen
der Stadt kommend, treffen konnten. Da er
nach 1953 nicht mehr als Seelsorger in der
DDR tätig sein durfte, lag sein Arbeits- und
Lebensschwerpunkt im Westteil Berlins.
Im Laufe seiner Arbeit hatte Fraccari die
Idee gefasst, ein „Casa rifugio”, ein
Zufluchts-Haus für bedürftige italienische
Waisenkinder, für Alte und Alleinstehende zu
gründen. Da es ihm an Geld fehlte, wandte er
sich an Papst Pius XII. und erhielt in einer
Privataudienz das finanzielle Startkapital
für sein Vorhaben. Schon vor seinem Besuch
in Rom hatte sich Fraccari in Berlin nach
einem geeigneten Haus umgesehen. Man fand
schließlich in einer 1919 als „Jagdhaus im
Grunewald” gebauten Villa in der
Sophie-Charlotte-Straße 31 in Zehlendorf das
geeignete Objekt. Das Haus gehörte den
Geschwistern Eichmann. Der allgemeine
Zustand war akzeptabel, obwohl sich durch
die fehlenden Fensterscheiben Feuchtigkeit
im Hause niedergeschlagen hatte und die
Wände teilweise vom Schwamm befallen waren.
Als „Casa Pio XII”, Haus Pius XII, wurde es
im Dezember 1949 mit einem großen Fest für
alle italienischen Kinder Berlins eröffnet
und ein Jahr später offiziell eingeweiht.
Die Anzahl der ständigen Bewohner des Hauses
war aus Platzgründen reduziert. Zwölf
elternlose kleine Italiener waren im
Erdgeschoss untergebracht, im oberen
Stockwerk wohnten 14 ältere Menschen. Am 5.
Dezember 1959 wurde die Stiftung um das
Nachbargrundstück erweitert. Fraccari
organisierte auch Urlaubsaufenthalte im Casa
Pio. Während der Sommermonate verbrachten
manchmal bis zu 80 italienische Kinder ihre
Ferien im Haus. Das Haus war dann von
sächsischen und mecklenburgischen Lauten
erfüllt. Italienisch mussten die kleinen
Italiener erst in eigens organisierten
Sprachkursen erlernen.
1950 gründete Fraccari auch die Missione
Cattolica, deren Aufgabe es war,
Einwanderern und allen anderen Italienern in
Berlin religiösen Beistand zu vermitteln. Im
gleichen Jahr holte er italienische
Ordensschwestern zur Betreuung der Bewohner
nach Berlin. Noch heute wirken hier die
„Sorelle della Misericordia”, die Schwestern
der Barmherzigkeit aus Verona, im übrigen
auch im Karl-Steeb-Heim in der Hagenstraße
in Grunewald.
Fraccari kümmerte sich nicht nur um die
Überlebenden, sondern auch um die
Verstorbenen. So sorgte er dafür, dass
verstreut begrabene Kriegsgefallene,
verstorbene Internierte und von den Nazis
ermordete Zwangsarbeiter 1953 auf einen
italienischen Ehrenfriedhof umgebettet
wurden. Der Cimitero Militare Italiano auf
dem Zehlendorfer Waldfriedhof an der
Potsdamer Chaussee ist so auf 18.000
Quadratmetern für 1177 Kriegstote zur
letzten Ruhestätte geworden.
Don Luigi Fraccari, der weit über die
Grenzen Berlins hinaus bekannt war, erhielt
zahlreiche Auszeichnungen:
1957 verlieh ihm der italienische
Staatspräsident den Stern der Solidarität,
eine hohe Auszeichnung für besonders
verdiente Mitbürger,
1965 wurde er in Italien zum Ehrenritter
ernannt, von Papst Pius XII. wurde ihm der
Titel Monsignore verliehen.
1971 erhielt er für sein Wirken um die
deutsch-italienische Verständigung zusammen
mit Prof. Carlo Schmid den De Gasperi Preis.
Viele der mehr als 6000 in Berlin lebenden
Italiener, etwa 300 lebten in Ost-Berlin,
waren in Berlin heimisch geworden und
fühlten sich nicht mehr gesellschaftlich
isoliert. 1978 zogen die letzten
Heimbewohner aus der Casa Pio XII aus.
Gesundheitliche Gründe zwangen Don Luigi
schließlich, am 1. Juni 1979 in den
Ruhestand zu treten. Nach 35 Jahren in
Berlin kehrte er in seine italienische
Heimat zurück. Am 24. Januar 2000, seinem
91. Geburtstag, ist er in Sant' Ambrogio di
Valpolicella in der Nähe von Verona
gestorben. Bis zuletzt hatte er mit großem
Interesse an der Entwicklung der von ihm
gegründeten Einrichtung Anteil genommen und
auch durch verschiedentliche Besuche seine
bleibende Verbundenheit mit den beiden
Häusern zum Ausdruck gebracht.
Heute arbeitet in der
Sophie-Charlotte-Straße 31 und 33a seine
Stiftung als gemeinnützige Einrichtung im
stationären Bereich auf dem Gebiet der
Kinder- und Jugendhilfe. Ein wesentliches
Merkmal der Arbeit ist die Konstanz der
Beziehungspersonen. Sie ist durch das im
Haus wohnende Erzieherpaar gewährleistet.
Darüber hinaus stehen in allen
Arbeitsfeldern weitere Fachkräfte aus dem
heilpädagogischen Bereich zur Verfügung. So
werden in die Integrationsgruppe Kinder und
Jugendliche ab 4 Jahren betreut, die durch
eine Lern- und leicht- bis mittelgradige
geistige Behinderung,
Verhaltensauffälligkeiten,
Entwicklungsverzögerungen, soziale und
emotionale Störungen beeinträchtigt sind. In
die Wohngemeinschaft aufgenommen werden
können Jugendliche ab 16 Jahren, die der
Integrationsgruppe entwachsen sind oder
durch direkte Aufnahme der Jugendämter.
Voraussetzung für die Aufnahme in das
Betreute Einzelwohnen ist ein Mindestalter
von 16 Jahren, die Freiwilligkeit sowie die
Bereitschaft zu kontinuierlicher Mitarbeit.
Eine Erweiterung in die Bereiche
Erziehungsbeistandschaft / Betreuungshelfer
und sozialpädagogische Familienhilfe ist
möglich.
Verfasser: Werner Kerkloh
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